WM 2018 – enttäuschte deutsche Fans

Jogi

 

Bei aller berechtigten Enttäuschung in Fußball-Deutschland über das Scheitern des amtierenden Weltmeisters vergessen die deutschen Fans, dass die anderen „großen Fußballnationen“ dieses Schicksal viel häufiger ertragen müssen als die erfolgsverwöhnten Anhänger der deutschen „Mannschaft“ (hier nicht als Schimpfwort verwendet).

Der amtierende Weltmeister bereits in der Vorrunde gescheitert, der Vizeweltmeister und der Europameister – beide nach Zitterpartien in der Vorrundengruppe – im Achtelfinale, und gleiches gilt für den „Seriensieger von 2008-2012“ Spanien. Deswegen sprechen viele von DER Weltmeisterschaft der Überraschungen und Außenseiter – stimmt aber nicht, weil dieses Szenario in den letzten Jahrzehnten eher die Regel als die Ausnahme war. Außerdem waren die Niederlagen des Vizeweltmeisters Argentinien gegen Frankreich und des (Überraschungs-)Europameisters Portugal gegen Uruguay keineswegs Überraschungen. Lediglich das Scheitern im Elfmeterschießen des WM-Favoriten der Wettanbieter, Spanien, gegen den Gastgeber Russland und das deutsche Scheitern in der Vorrunde waren mehr oder weniger große Sensationen. Wenn man dann wiederum bedenkt, dass Deutschland dieses Schicksal mit drei der letzten vier amtierenden Weltmeister teilt, ist die Sensation vielleicht auch schon wieder weniger groß – auch wenn dieses „Phänomen“ nicht wirklich sachlich und logisch zu erklären ist.

Vielleicht schätzen einige enttäuschte deutsche Fußballfans die permanent starken und erfolgreichen Leistungen der Turnier“Mannschaft“ Deutschland höher ein, wenn sie nachfolgende Informationen aufmerksam durchlesen:

  • Deutschland war bei den letzten sechs Welt- bzw. Europameisterschaften (2006-2016) immer im Halbfinale. 2008 Vize-Europameister und 2014 Weltmeister. Diese Konstanz war einmalig in dieser „Dekade“, obwohl Spanien von 2008 bis 2012 drei Titel in Serie holte und diese Mannschaft wohl zu den größten der Fußballgeschichte überhaupt zählt. Trotzdem musste man nach Halbfinalniederlagen immer wieder das schlimme Wort „Versager“ hören.
  • Keiner der letzten sieben Titelträger bei WM und EM seit 2004 steht im Viertelfinale dieser WM. Griechenland (Europameister 2004) und Italien (WM 2006) sind gar nicht dabei, ebenso der Vize-Weltmeister von 2010 und WM-Dritte von 2014, die Niederlande.
  • Von den 14 Finalisten seit 2004 steht lediglich Frankreich (Vize 2006 und 2016) im Viertelfinale.
  • Von den Viertelfinalisten von 2014 stehen lediglich drei Nationen wieder in der Runde der letzten Acht: Frankreich, Belgien, Brasilien. Frankreich und Belgien scheiterten 2014 in dieser Runde, Brasilien wurde im eigenen Land wenig ruhmreicher Vierter (die Bilanz der letzten beiden Spiele gegen Deutschland und Holland lautete 1:10 Tore!)
  • Von den Viertelfinalisten der EURO 2016 sind in Russland auch lediglich noch zwei Nationen dabei: Frankreich und Belgien – diese sind somit die konstantesten, wenn man die letzten drei Turniere (inkl. 2018) betrachtet. Zwei Viertelfinalisten der EURO 2016 sind gar nicht in Russland: Italien und Wales, welches 2016 sogar ins Halbfinale einzog. Drei Viertelfinalisten von 2016 sind 2018 in der Vorrunde gescheitert: Neben Deutschland auch noch Island und Polen. Und den Europameister hat es nun im WM-Achtelfinale erwischt….
  • Der Champion der letzten beiden südamerikanischen Titelkämpfe, Chile, hat sich übrigens auch nicht für die WM 2018 qualifiziert. Bei beiden Austragungen der Copa América 2015 und 2016 blamierten sich zudem die südamerikanischen Viertelfinalisten der WM 2018, Brasilien und Uruguay, bis auf die Knochen.
  • Bei den bisher ausgetragenen 20 Weltmeisterschaften seit 1930 gab es lediglich zwei Titelverteidigungen: 1938 durch Italien. Dabei ist interessant, dass viele Italiener die beiden Titel von 1934 und 1938 selbst gar nicht zählen lassen wollen. Gerade die Titelkämpfe 1934 im eigenen Land müssen unter massivsten Manipulationen und Skandalen durch Mussolinis Italien gelitten haben. Und 1962 verteidigte „Pele´s Brasilien“ seinen 1958 gewonnenen WM-Titel. 1966 scheiterten die Brasilianer in England dagegen – man ahnt es schon – in der Vorrunde.
  • Die deutsche Nationalmannschaft dagegen scheiterte ab 1954 in 16 aufeinander folgenden WM-Turnieren nie vor dem Viertelfinale. Trotzdem wurden Ausscheiden im Viertelfinale – gerade nach WM-Triumphen – immer mehr oder weniger als „nationale Tragödien“ betrachtet: 1978 und 1994 quittierten die deutschen „Fans“, aber auch die Medien das Scheitern der amtierenden Weltmeister ebenfalls mit Hohn und Spott.
  • Vor achtzig Jahren, 1938 in Italien, scheiterte Deutschland bislang zum einzigen Mal bei einer WM in der ersten Runde. Damals im Achtelfinale eines 16er-Feldes in einem reinen KO-Turnier. Eine interessante Randnotiz aus der Fußballgeschichte hierzu: Die Mannschaft des „großdeutschen Reiches“ – bestehend aus Deutschen und Österreichern – scheiterte im Wiederholungsspiel sensationell an der Schweiz. Ursprünglich wären beide Nationen getrennt voneinander für das Turnier qualifiziert bzw. gemeldet gewesen. Man mixte jedoch eine Mannschaft aus Spielern beider Länder zusammen (Verhältnis 6:5) und schwächte sich damit kolossal, weil die beiden Länder ursprünglich völlig unterschiedliche Spielsysteme gespielt hatten. (Siehe auch https://www.sport.de/news/ne3269357/wm-1938-das-grossdeutsche-desaster/ ).

 

All diese Informationen sollen dazu beitragen, um aufzuzeigen, dass Erfolg im Leben, im Sport, im Fußball nicht konservierbar ist. Dass die deutsche Nationalmannschaft – unter Jogi Löw – die letzten sechs großen Turniere immer unter den besten vier Mannschaften beendete, war keine Selbstverständlichkeit, sondern eine außergewöhnliche Leistung. England wartet seit 1966 darauf, endlich einmal wieder in ein großes Finale einziehen zu können. Spaniens „Selección“ war bis zu seiner Siegesserie von 2008 bis 2012 jahrzehntelang völlig erfolglos und der alte Rivale Italien hat in den letzten zwei Jahrzehnten mehr schmachvolle Pleiten erlitten als Deutschland in seiner gesamten WM-Historie.

Vielleicht tut „Fußball-Deutschland“ auch einmal ein bisschen Erdung gut. Bei allem „ohne Holland fahren wir zur WM“ und Bestellungen von Pizze während WM-Spielen hat man vergessen, dass auch die eigenen Spieler keine Maschinen, sondern nur Menschen sind. Leider können das viele aber auch eine Woche nach dem Ausscheiden noch nicht einsehen und verkraften. Wenn man sich zu sehr an den Erfolg gewöhnt hat, kann man den häufig leider nicht mehr genießen und einschätzen („Halbfinale = Versagen“) und kann sich nur sehr schwer daran gewöhnen, was andere Fußball-Nationen längst wissen: Erfolg im Fußball ist nicht konservierbar — und wenn er dies ist, dann wird Fußball für viele uninteressant: Ich sage nur „FC Bayern – sechs Deutsche Meisterschaften in Folge“!  😉

7 Kommentare zu „WM 2018 – enttäuschte deutsche Fans“

  1. Abermals ein sehr informativer Beitrag Peter, Chapeau! Ich muss ehrlich sagen, dass ich bei den großen Turnieren von 2008-2012 auch sehr, sehr enttäuscht war, dass Deutschland an Spanien, bzw. Italien gescheitert ist. Zum Halbfinal- und Final-KO vs. Spanien muss man aber sagen, dass Spanien – wie du indirekt schon erwähnt hast – in diesen Jahren nahezu unschlagbar war.

    1. Danke Christoph 🙂

      Natürlich ist man als Fan immer enttäuscht, wenn die eigene Mannschaft scheitert. Aber die meisten vergessen dann sehr schnell, dass auch der Weg in ein Halbfinale (2006, 2010, 2012, 2016) oder ein Finale (2008) ein sehr weiter schwieriger und keineswegs selbstverständlich ist.

      Schau dir die Spanier an: Die Seriensieger von 2008-2012 sind 2006 im Achtelfinale gescheitert, 2014 in der Vorrunde und 2016 und 2018 wieder im Achtelfinale. Die Italiener haben außer 2006 (Weltmeister) und 2012 (Vize-Europameister) ausschließlich Enttäuschungen erlebt.

      Zu einer WM reisen 32 Teams an und 31 treten mehr oder weniger enttäuscht und „als Verlierer“ wieder die Heimreise an.

      Unfassbarerweise ist Deutschland bis 2018 tatsächlich nur einmal vor dem Viertelfinale gescheitert: 1938 — in der beschriebenen Konstellation. Und irgendwann erwischt es jeden … und dann ist es besonders hart.

  2. Danke für diesen informativen wie mutmachenden Artikel. Eine kleine Ergänzung zur WM 1938. Es war ja damals ein „Achtelfinale“ mit nur fünfzehn Mannschaften, da Österreich seine WM-Teilnahme „zurückziehen“ musste. So zog Schweden kampflos ins Viertelfinale ein.

    1. Sehr gerne.

      Ja, absolut korrekt, was das 15er Feld bei der WM 1938 betrifft. 👍

      Bei den WM 1930 (Uruguay) und 1950 (Brasilien) waren es übrigens nur jeweils 13 anstelle von 16 Teilnehmern. Die beiden WM ohne deutsche Beteiligung – allerdings aus unterschiedlichen (nicht sportlichen) Gründen.

      1. Und noch ein Gedanke: Viele „Fans“ sind ja auch enttäuscht darüber, dass Löw nicht zurückgetreten ist. Ob sie sich nach den Zeiten sehnen, in denen der Bundestrainer weder einen Kader zusammenstellen durfte, noch eine Mannschaftsaufstellung? Immerhin war das so bis 1950, also ein halbes Jahrhundert lang.

        1. Deine Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen. 😜😝

          Es ist mir auch so vorgekommen, als wollte ein Großteil der „Fans“ dem Jogi Löw die Mannschaft vorschreiben, die dann gefälligst für Deutschland Weltmeister werden muss 😉

  3. Sehr gut!

    Vor allem die „Schluss-Pointe“: Wenn es nicht gelingt, den Erfolg zu konservieren, dann ist man sauer und enttäuscht. Und wenn es tatsächlich gelingt, dann ist das LANGWEILIG! 😉

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